Die Kunst des Geistes kommt vor der Kunst der Technik

( Gijutsu yori shinjutsu )


So lautet die von unserem Karatestilgründer Sensei (= Meister) Funakoshi formulierte fünfte von insgesamt zwanzig Grundregeln, welche sich jeder ernsthaft Karatetreibende im Laufe seines persönlichen Karatewegs zu eigen machen sollte.

Der regelmäßige Leser unserer PSV-Vereinsnachrichten erinnert sich vielleicht noch daran, daß wir in dieser Reihe versuchen,  sowohl dem Karate-“Laien“ als auch dem schon länger praktizierenden Karateka den ideellen Rahmen aufzuzeigen, in welchem die tatsächlichen physischen Übungen im Karatetraining stattfinden sollen. Dieser Rahmen wird durch die eingangs erwähnten zwanzig kurzen ( - und einprägsamen - ) Grundregeln vorgegeben.


Gehen wir nun näher auf diese heute zu besprechende Regel ein. Vielleicht liest der ein oder andere ja aus ihr heraus, daß dem Training der einzelnen Technik, der Kombinationen und Katas (= Formen bzw. stilisierte Kämpfe gegen imaginäre Gegner) nicht so viel Gewicht beigemessen werden müsse, bzw. es ausreiche, diese nur im Groben ungefähr zu imitieren, was gleichbedeutend mit einer deutlichen Abkürzung des Ausbildungsweges wäre. Sozusagen Meister light in ein bis zwei Jahren. Dem ist aber „leider“ nicht so! Das heißt es gibt keine Abkürzung auf dem schweißtreibenden und oft auch etwas schmerzhaften Weg zur „Vervollkommnung“ der Technik.

Vielmehr weist diese Regel darauf hin, daß die technische Meisterung eines Bewegungsablaufes nur eine notwendige aber sicher nicht eine hinreichende Bedingung für echtes Karate bedeutet. Was umfasst der Begriff des Geistes nun genau?


Bei den asiatischen Kampfkünsten gibt es immer einen sehr tiefgreifenden und wechselweisen Zusammenhang zwischen den physiologischen und den spirituellen Aspekten des Kampfes und seiner Vorbedingungen. Eigentlicher Ausgangspunkt ist dabei nicht der Zeitpunkt des Beginns einer konkreten Auseinandersetzung bzw. eines Kampfes, sondern schon die gesamte Kampfkunstbiografie der Kämpfer. Hierzu gehört insbesondere die Fähigkeit, schon im Vorfeld mit „wachem Geist“ das Geschehen in der gesamten Umgebung wahrzunehmen. Sich in unbekannter und potentiell gefährlicher Umgebung lieber mit seinem Handy, MP3-Player oder ähnlichen Zerstreuungswerkzeugen zu beschäftigen, ist beispielsweise nicht wirklich kompatibel mit einem solchen „wachen Geist“. Ein wacher Geist versucht schon im Vorfeld automatisch (und nicht immer unbedingt bewußt) potentielle Gefahrensituationen zu antizipieren und bei der Wahl zwischen mehreren Alternativen den Weg des geringsten Risikos mit vertretbarem Aufwand zu finden. Natürlich wird an dieser Stelle nicht ein Lobgesang auf bedingungslosen Opportunismus angestimmt. Der Unterschied liegt nämlich schon vorab in der Auswahl der Alternativen, welche sich natürlich aus einem System moralischer und ethischer Grundprinzipien ableiten lassen.


Nach der Vorabplanung geht es mit der Wahrnehmung des tatsächlichen Umfelds weiter. Gibt es z. B. Hinweise auf mögliche Eskalation von Gewalt, die sich gegebenenfalls noch verhindern ließe? Kommt es aber zur tatsächlichen Auseinandersetzung, muß sich der eigene „Geist“ schon aufgrund einer Vorabklärung, wie man zu Gewalt, Schmerz, Verletzung, angemessener Reaktion und ähnlichem steht, frei und unbehindert auf die Situation einstellen können. Nur so ist es möglich, (relativ) angstfrei die (teilweise unbewussten) Signale des Angreifers richtig und hinreichend schnell zu deuten und durch entschlossenes und entschiedenes Handeln die Gefahrensituation zu beenden.


Vieles von den hier aufgezählten Punkten lässt sich in einem guten Training tatsächlich über die Jahre hinweg herausbilden. Voraussetzung ist allerdings die eigene Ernsthaftigkeit im Training. Auch wenn ich mit meinem Gegenüber privat möglicherweise befreundet bin, muß ich ihn ernsthaft angreifen, bzw. davon ausgehen, daß ich ernsthaft angegriffen werde. Nur so kann ich meinen Körper und Geist unter den notwendigen Streß bringen, der zur Herausbildung der oben beschriebenen Fähigkeiten führen wird. Selbstredend beinhaltet ernsthafter Angriff nicht Billigung unkontrollierter Treffer! .. aber da wären wir ja wieder bei der Technik! 

In diesem Sinne wünsche ich allen Karatekas ein erfolgreiches Training von Technik und Geist!



Ihr / Euer 

Alexander Mitsanas, 

Trainer der Karateabteilung im PSV


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